Varg (gesprochen: warj) ist das schwedische Wort für den Wolf. Das Verhältnis der Schweden zu diesem Tier ist hochaktuell und hat in den letzten Monaten sowohl meterweise Zeitungsspalten gefüllt, als auch zu zahllosen lebhaften Diskussionen geführt. Anlass ist, dass zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Wölfe gejagt werden.
Doch der Reihe nach. Wölfe gab es geschichtlich schon immer in Schweden. Über die Jahrhunderte musste man seine Haustiere vor ihnen schützen, konkurrierte mit ihnen um andere Wildtiere und jagte sie als “Schädlinge”. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde man so gut darin, dass man Wölfe in Südschweden ausrottete. 1900 gab es nur noch um die 100 Tiere im Land und 1965, als man das “Kopfgeld” gegen gesetzlichen Schutz vor der Ausrottung eintauschte, nur noch etwa 10 Tiere. Seitdem versucht man einerseits, eine auf Dauer haltbare Wolfspopulation aufzubauen, und andererseits die Akzeptanz unter Schweden zu erhöhen.
Beides ist nicht einfach. Die Angst vor dem Wolf sitzt tief, wenn auch völlig unbegründet: Ein einziger Fall ist in Schweden bekannt, in dem ein Wolf einen Menschen getötet hat. Das war 1821 und der Wolf war in Gefangenschaft aufgewachsen. Unfälle mit Braunbären sind viel häufiger, deren Wahrnehmung ist jedoch eher vom Teddy-Bären geprägt denn vom Inbegriff des Bösen in volkstümlichen Geschichten und Märchen. Schwedens gefährlichste Tiere sind Wespen und Kreuzottern. Außerdem Elche – durch die zahlreichen Verkehrsunfälle.
Die Wolfspopulation wieder aufzupäppeln stieß auf vielerlei Schwierigkeiten. Zum einen basiert sie auf so wenigen Individen, dass Inzucht ein Problem ist. Die allermeisten schwedischen Wölfe sind stärker miteinander verwandt als Vollgeschwister. Einwanderung von Osten her über Finnland wird durch illegale Jagd erschwert. Die Rentier-Züchter im Norden haben ein Problem mit Wölfen, denn die seit etwa hundert Jahren (dank der faktischen Ausrottung der Raubtiere) mögliche Tierhaltung auf großen ungeschützten Flächen wird von den Samen vehement als “traditionell” verteidigt. Dass noch bis Ende des 19. Jahrhunderts stattdessen die Jagd auf wilde Rentiere Alltag war, wird bei der Diskussion um die Vorrechte der schwedischen Urbevölkerung oft unterschlagen.
Jedenfalls scheint unter mindestens einem Teil der Jäger und Waffenbesitzer das Motto sjkut, gräv och tig! (schieß, vergrab und schweig!) zu gelten, wenn es um Wölfe geht, und manche Wolfsspur im Schnee endet plötzlich auf der schwedischen Seite der Grenze zu Finnland. Etwa ein Zehntel der Wölfe wird jedes Jahr gewildert und es ist jedes Mal eine landesweite Nachricht wert, wenn ein Übeltäter erwischt wird.
Nichtsdestotrotz wurde letztes Jahr das vom Reichstag beschlossene Ziel erreicht, zweihundert Wölfe mit zwanzig Würfen in Schweden zu haben. Diese leben vorrangig nicht im nördlichen, sondern in Mittelschweden mit Konzentrationen in Värmland und Dalarna. Sogar ins Stockholmer Umland ist vor nicht allzu langer Zeit ein Pärchen gezogen.
Die Debatte, ob 200 Wölfe viel zu viel oder viel zu wenig sind, wie man Haustiere (v.a. Schafsherden) am besten schützt und wie man entstandene Schäden mit Steuergeldern ersetzen soll, ist andauernd und die Meinungen gehen stark auseinander. Von Forscherseite sieht man kein Problem mit ein paar tausend Wölfen und verweist auf Osteuropa, wo das ohne groß Aufhebens funktioniert. Die starke Lobby der Jäger bestärkt dagegen regelmäßig das Klischee der Schießwütigkeit; man möchte so gerne Wölfe schießen und sie außerdem schon gar nicht den Jagdbedarf an anderem Wild dezimieren lassen.
Verhärtet werden die Fronten in der Wolfsfrage zusätzlich dadurch, dass sie die Stadt- und die Landbevölkerung teilt. Schweden ist sehr urbanisiert und Umweltschutz ein wichtiges Thema. Die Zustimmung zu mehr Wölfen ist bei Stadtbewohnern größer als auf dem Land, von wo man das Argument hört, dass Städter ja leicht reden haben, sie aber nicht mit Wölfen vor der Haustüre leben müssten. Das Gegenargument, dass man seinen Wohnort den eigenen Vorlieben anpassen kann (wer Stadtlärm nicht mag, zieht aufs Land; wer irrationale Angst vor Wölfen hat, sollte vielleicht nicht in Värmland wohnen), wird dennoch von vielen als zynisch gesehen.
Weil das 200-Wölfe-Ziel überschritten war und um die Akzeptanz zu erhöhen, hatte die zuständige Behörde für diesen Winter 27 Wölfe zum Abschuss freigegeben. Das ist die erste legale Jagd auf Wölfe seit 45 Jahren. 4500 (!) Jäger meldeten sich dafür an und dementsprechend war die Quote nach zwei Tagen erfüllt und die Jagd vorbei. Doch sie war Öl ins Feuer der öffentlichen Diskussion. Die Rechtfertigung von Umweltminister Carlgren, dass die Jagd gut für die von Inzucht geschädigte Population sei, wurde mehrfach widerlegt. Zum einen von Forschern, die darlegen, dass mehr eingewanderte Wölfe der einzig gangbare Weg sind; zum anderen durch die Untersuchung der geschossenen Wölfe, die sich als völlig gesund erwiesen. Außerdem gab es keinerlei Vorgaben, die Nachkommen der wenigen Neuankömmlinge (die es durch Norrland nach Mittelschweden geschafft haben) von der Jagd auszunehmen. Dass keine von diesen “genetisch wertvolleren” Tieren geschossen wurden, war Zufall. Kritik an der Jagd kam zusätzlich von so gut wie allen nationalen und internationalen Naturschutzorganisationen: Schweden hat schließlich die Jagd auf eine bedrohte Tierart erlaubt.
Wie geht es nach dem Proteststurm weiter? Über eine Fortsetzung der Jagd ist noch nicht entschieden, aus dem Umweltministerium hört man jedoch, dass eine Voraussetzung der (künstlich verursachte) Zuzug von 20 Wölfen ist, um “frisches Blut” in den Wolfsstamm zu bringen und ihn damit robuster zu machen. Dies soll schon kommenden Winter geschehen. Vielleicht war es berechnende Taktik, mit der Jagd den Widerstand gegen mehr neue Wölfe bei der starken Jäger-Lobby aufzuweichen und ihnen durch den begleitenden Proteststurm gleichzeitig klarzumachen, wie viele Menschen mehr Wölfe in Schweden für eine gute Sache halten.
Die Öffentlichkeit hält jedenfalls ein wachsames Auge auf das Thema und es wird auch in kommenden Jahren nicht als medialer Dauerbrenner verebben.
Links und Quellen zum Thema: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19.
Warten auf Schweden. Edward Issa ist Zahnarzt. Nordschweden sucht händeringend nach Zahnärzten. Trotzdem sitzt Dokor Issa seit anderthalb Jahren in einen Backsteinbau in Kristianstad, immer ungeduldiger wegen des zu langsamen Sprachunterrichts. Ist die Fürsorglichkeit der Politiker zum Hindernis für wirkliche Integration geworden? Willkommen zum ersten Teil in Maciej Zarembas Artikelserie “Warten auf Schweden”.
Zuerst ein Bekenntnis. Lange Jahre habe ich mich geweigert, meinen Pass zu zeigen, wenn ich innerhalb Skandinaviens reiste. Die Grenzpolizei betrachtete meinen Führerschein, dann kam die Frage: “Schwedischer Staatsbürger?” Ich nickte immer als Antwort. “Sprichst du Schwedisch?” Erneutes Nicken. “Warum sagst du nichts?” “Weil ich dachte, das hier sei eine Passkontrolle, kein verdammter Sprachtest.”
Ich glaubte, den Beamten beibringen zu müssen, dass Schweden ganz unterschiedlich aussehen können. So passierte es mir, dass ich letzten Frühling bei einer Reise außerhalb Schengens meinen Pass zu Hause vergaß. Und siehe da, sonntags in aller Herrgottsfrühe auf einen Feld vor dem Flughafen Skavsta stand eine Behörde bereit, mir einen vorläufigen Pass auszustellen. Der Mann, der das (in sieben Minuten) machte, trug schwedische Polizeiuniform, klang aber wie ein Türke. Ich überlegte kurz, ob ich ihn fragen sollte, wie es ihm in Schweden gefällt. Der Passpolizist in der Kabine sah aus wie Idi Amin. Die Frage nach dem Gefallen vergaß ich sofort, sein Dialekt war deutlich aus Dalarna. Er kniff die Augen zusammen, schaute mich schräg an und meinte, dass ich eine interessante Farbe für meinen Pass gewählt hätte. (Für die, die es nicht wissen: Notpässe sind rosa.) Was antwortet man da? “Pass auf, das kann dir auch passieren.” “Sicher”, grinste Amin durchs Panzerglas, “aber bei mir würde es nicht so gut zu den Augen passen.”
Ich ging mit dem dummen Lächeln eines gerade Bekehrten ins Flugzeug. Ein schwarzer Wachtmeister aus Dalarna, der Schwulenwitze reißt. Und der genug Gespür dafür hat, bei wem sie ankommen. Oh mein Gott, wir sind auf Manhattan!
Im Jahre 1956 begab sich das Volk auf die Straßen der Gelehrtenstadt Lund, da das Gerücht ging, ein Neger sei am Bahnhof gesichtet worden. Seitdem hat ein Land, das seit Jahrhunderten fast völlig einheitlich in Sprache, Glaube und Sitten war, über zwei Millionen Fremde aufgenommen (jeder zweite zog wieder weg), ohne dass irgendwelche Katastrophen auf dem Weg eintrafen. Das Misstrauen gegenüber dem Fremden ist ein natürlicher Reflex. Lass uns also der Gerechtigkeit halber feststellen, dass Schwedens Treffen mit dem Fremden zuallererst eine Erfolgsgeschichte ist. Wer meint ich beschönige, kann darüber nachsinnen, was für Spasmen Auswärtige in Dänemark hervorrufen.
Das wollte ich gesagt haben, damit ich im Folgenden frei reden kann.
Es begab sich im Frühling 2007, dass das Maß voll war für Lage Wigren, Chefzahnarzt in Storuman. Sieben Jahre lang gelang es ihm nicht, einen festen Zahnarzt in seine Klinik zu bekommen. Die Patienten murren, ihr Gebiss ständig neuen Doktoren zu zeigen. Also fasst Lage Wigren seinen Entschluss. Wenn wir keinen Schweden finden, der in Storuman bleiben will, nehmen wir eben einen aus dem Ausland. Und wenn wir ihm selbst die Sprache beibringen müssen.
Und siehe da, es es ergibt sich glücklicherweise, dass gerade als Lage Wigren seinen Entschluss fasst, die Einwanderungsbehörde zu Kenntnis nimmt, dass Edward Issa auf der Flucht aus Bagdad in Arlanda angekommen ist.
Alles scheint für ein glückliches Aufeinandertreffen angelegt zu sein. Über dreitausend Bedienstete in den Gemeinden stehen bereit, das Treffen zwischen Dr. Issa und Dr. Wigren zu erleichtern, 181.400 Kronen staatlichen Geldes sind für ihn zurückgelegt, es gibt ein Ministerium und drei Behörden, die sich nur damit beschäftigen, wie er schnellstmöglich Arbeit findet. Was will man mehr?
Fazit: Anderthalb Jahre später sitzt Dr. Issa voller Ungeduld über den langsamen SFI-Kurs (Schwedisch für Einwanderer) in einem roten Ziegelbau in Kristianstad. In der Zwischenzeit hat Storuman einen ausländischen Zahnarzt – aus Polen. Ewa Bisztyga heißt sie, kam im Februar 2008 in Lapplanda nach Schweden, schon integriert, wie es schien, weil sie nicht nur Schwedisch sprach, sondern auch Witze machte. Drei Tage später fing sie an, Steuern zu zahlen, ziemlich viel Geld, mehr als Edward zum Leben in Kristianstad hat. Man integriert ihn nämlich immer noch und gleich dürfen wir sehen, wie so etwas vor sich geht.
Diese Reportage versucht zu verstehen, warum es zwangsläufig so kommen musste. Ist es der Rassismus der Schweden, der es den Einwanderern schwer macht durchzukommen, was viele behauptet haben, oder ist es etwas anderes? Wird Integration dadurch erschwert, dass Fremde zu viel unvernünftige Kultur mitbringen – während in unserer alles vernünftig und aufgeschlossen ist? Und was meinen wir eigentlich mit Staatsbürgerschaft?
Der Versuch eilt, diese Fragen zu beantworten; nur wenige Kilometer vom frustrierten Dr. Issa entfernt brütet der Vorsitzende Jimmie Åkesson vor sich hin. Auch er frustriert, aber voller Zuversicht. Alles bisher genannte ist Wasser auf die Mühlen seiner Schwedendemokraten, die schon den Sitz im Reichstag wittern. Ist es nur deren ländlicher Charme – oder haben die guten, toleranten und antirassistischen Kräfte ihnen auf die Beine geholfen?
Zurück zu Lage Wigren in Storuman. Er versucht nicht einmal, seinen Doktor unter den Neuankömmlingen zu suchen. Nicht nur weil es länger mit irakischen Zahnärzten dauert als mit denen aus der EU (die nicht zu beweisen brauchen, was sie können). Wigren weiß, dass es sinnlos ist. Schauen wir uns an, was passiert wäre, hätte er es versucht.
Schweden ist ein Zentralstaat, also sollte es die Zentrale am besten wissen. Wigren ruft das Integrationsministerium an. Hallo, haben Sie zufällig einen Zahnarzt zum Integrieren? Das Ministerium hat solche Informationen nicht. Aber es gibt die vielleicht beim Justizministerium? Er ruft an, dort weiß man es auch nicht, aber verspricht, bei der Einwanderungsbehörde nachzufragen, “die Verantwortung zur Bestandsaufnahme hat”. Tut uns leid, die Behörde führt kein Buch über die Berufe von Einwanderern. Aber versuche es bei der Zentrale für Gemeinden und Regionen, schließlich wird ja dort integriert. Nein, da weiß man auch nichts. Wigren bekommt den Rat, direkt die einzelnen Gemeinden anzurufen. Derer gibt es 290.
Dr. Wigren macht einen letzten Versuch beim Arbeitsamt. Nein, auch diese Behörde führt nicht Buch, ob es Zahnärzte, Chauffeure, Krankenschwestern oder andere gesuchte Berufe unter den Neuankömmlingen gibt. Aber frag gerne noch einmal nächstes Jahr, dann haben wir vielleicht eine Liste. Versuch es derweil beim Amt für Statistik, raten die Vermittler. Unser Doktor ruft an. Bingo! Einen solchen Katalog gibt es zwar nicht, aber wenn man bezahlt, kann das Amt die Berufsstatisktik mit dem Melderegister zusammenführen und so die Aufenthaltsgenehmigungen nach Beruf verteilt ermitteln. Aber nur bis 2006. Das macht nichts! ruft Wigren und zückt das Portemonnaie. Ich kaufe die ganze Liste! Liste? Sie bekommen eine Tabelle. Die Namen dürfen wir nicht herausgeben.
Was bleibt? An den zentralen Behörden vorbeizugehen und anzufangen, lokale Flüchtlingsorganisationen anzurufen. Davon gibt es gut vierzig, einige haben mehrere Stunden Telefonzeit pro Tag, aber keine ist verpflichtet, Informationen herauszugeben. Man hat zwar über diverse Daten der Flüchtlinge Buch geführt, aber nach “Beruf” kann man in der Datenbank nicht suchen. Von Hand vielleicht? “Unter 900 Namen? Dafür haben wir keine Zeit…” Aber wenn Wigren Riesenglück hat, landet er bei einem Juwel von Bürokrat, wie Lars Ulander in Söderhamn. Der erinnert sich nicht nur zufällig, dass es zwei Doktoren in seinem Lager gibt, er ist auch bereit, sie aufzusuchen und mit ihnen zu reden.
Jahrzehntelang hat der Staat erfasst, welche Fliesen Svensson in seinem Sommerhaus hat und wann er das erste Mal onanierte. Kein Aspekt unserer Lebensweise wurde für zu trivial fürs Zentralregister befunden. Aber dass die Flüchtlinge, die Schweden aufnimmt, einen Beruf haben, haben sämtliche Behörden zufällig vergessen. Das ist natürlich kein Zufall. Es ist ein Muster. Sich das vor Augen zu halten ist ein erster Schritt, die Havarie der Integration in Schweden zu verstehen. Hier wendet jemand ein, dass es nicht Aufgabe von Zahnarzt Wigren ist, Dr. Issa zu finden. Völlig richtig. Es gibt 33 Personen in Kristianstad, die in Vollzeit Neuankömmlinge integrieren. Denen kann der Ärztemangel in Nordschweden nicht entgangen sein.
Als Edward Issa und seine Frau (die in Bagdad Informatik studiert hat, ein weiterer Mangelberuf in Schweden) im Sommar 2007 nach Schweden kommen, wollen sie so schnell wie möglich Schwedisch lernen. Aber sie müssen warten, antwortet das Integrationsbüro, denn zuerst müssen sie den Kurs besuchen, der zur Beschäftigung der Flüchtlinge erfunden wurde und sich “Der Weg in die Gesellschaft” nennt. Dort darf man lernen wie wichtig Hygiene und Gleichberechtigung sind, wie staatliche Pfändung funktioniert und wie gesund Waldspaziergänge sind. Ein Besuch bei IKEA ist auch dabei. Aha, sagt Dr. Issa, erstaunt darüber, dass er lernen soll, sich die Hände zu waschen, aber warum nicht Schwedisch?
Er bekommt zu hören, dass es keinen Platz gibt im Schwedischkurs, “aber ich schaute nach und da saßen Leute, die schliefen, warum Platz für die und nicht für mich?” Im Dezember 2007, nach sieben Monaten, bekommt er endlich Schwedischunterricht. Doch der Kurs kommt nur stockend voran, ständig kommen neue Schüler, er findet er lernt zu wenig. Ich verstehe ihn, nach neun Monaten unterscheidet er nicht zwischen Präsens, Infinitiv und Imperfekt. Wir schreiben einander im Oktober 2008. Zur gleichen Zeit kauft sich die polnische Arztin in Storuman ein Haus und ihr zweites Pferd. Zu Edward Issa sagen die Integrierer, dass er im Sommer 2009 ein Praktikum anfangen kann, das ihn legitimiert. Aber lieber Edward, sage ich, du bist doch völlig fehl am Platz. Hat dir niemand erzählt, dass es Spezialkurse für Leute wie dich gibt?
Ich rufe seinen Sachbearbeiter an. “Intensivkurs Schwedisch für ausländisches Pflegepersonal? Haben wir nicht in der Gemeinde.” Nein, aber den gibt es in Göteborg, sage ich. “Das war mir wirklich nicht bewusst.” Sollte sie das nicht wissen, wenn sie Ärzte integriert? “Ich hatte noch nie eine solche Anfrage.”
Seltsam, Issa sagt, dass er gefragt hat, aber nein als Antwort bekam. Vielleicht fragte er auf die falsche Art? Ich hege den Verdacht, dass Issas Kontakt mit der Integration Ähnlichkeiten mit dem Kauf von Flugtickets bei Aeroflot zu Sowjetzeiten aufweist: “Gibt es Flüge nach Krasnojarsk? Ja. Wann? In einer Stunde. Und morgen? Ja. Wann denn? Um drei Uhr. Nur um drei? Nein, auch um sieben Uhr. Und übermorgen? Ja. Um wieviel Uhr? Um drei. Kann es sein, dass es tägliche Flüge nach Krasnojarsk um drei und um sieben Uhr gibt? Ja. Warum sagen sie das nicht gleich? Sie haben nicht gefragt.”
Hatte Edward Issa nur kein Glück? Nina Haddad ist Narkoseärztin aus Bagdad. Schwedische Krankenhäuser suchen solche händeringend, aber Haddad sitzt zuerst sechs Monate in Lund, wo sie Schwedisch für Analphabeten besucht und Bilder auf Papier malt (“das war obligatorisch, war man nicht da, bekam man keine Sozialhilfe”), danach ein Monat in einem Lager in Vetlanda (“man tat nichts”). Als sie endlich Schwedisch lernen darf, stellt sie einen SFI-Rekord auf. Sie hofft, das medizinische Examen im Februar 2009 abzulegen und ein Jahr später mit der Arbeit anzufangen. Dann sind fast vier Jahre vergangen seit sie nach Schweden kam. Auch ihr Sachbearbeiter hat ihr nicht gesagt, dass sie es in Stockholm und Göteborg in der Hälfte der Zeit schaffen kann.
Issa und Haddad hatten trotz allem Glück. Einen dritten irakischen Arzt wollten die Integrierer zum Lampen zusammenschrauben schicken. “Erfahrung im schwedischen Arbeitsleben ist wichtig”, bekam er zu hören. (Im Integrationsbüro hat dieses Praktikum einen anderen Namen: Er bekommt “eine Nah-Arbeits-Erfahrung”, gackern die Sachbearbeiter). Sollte er sich weigern, würde das Geld gestrichen. Dass er sein Praktikum stattdessen im kommunalen Zahnarztbetrieb macht, ist dem beherzten Eingreifen seines SFI-Lehrers zu verdanken. Der seinen Namen nicht in der Zeitung haben wollte. “Als ich den Zahnarztbetrieb kontaktierte, übertrat ich meine Befugnisse.”
Sollen wir glauben, dass sämtliche “Integrationssekretäre” in Kristianstad, die “den bestmöglichen Service auf dem Weg” geben sollen, nicht wissen, dass es Intensivkurse für medizinisches Personal gibt? Oder dass sie nicht genug Energie haben, “Gesundheitsschwedisch” zu googlen, wo man alle Information findet? Eine Beamtin bittet mich zu bedenken, dass es sich für die Gemeinde mehr lohnt, wenn diese Doktoren in der Putzbranche arbeiten. Dann kassiert Kristianstad 20.000 Kronen vom Staat, weil dem Flüchtling Arbeit verschafft wurde. Sollen sie dagegen zum Kurs in Göteborg geschickt werden, müssen die Integrierer das vom staatlichen “Schablonenbeitrag” bezahlen, der die Einführungen bezahlt. Und damit ihre eigenen Löhne. So sinnvoll ist das ganze angelegt.
Ich solle auch nicht den Alltagsrassismus in Schonen vergessen, sagt sie. Dann verbessert sie sich: “Rassismus ist das falsche Wort, aber wie soll man das nennen, was diese Beamten fühlen, wenn sie merken, dass diese dunkelhäutigen Wilden, auf die sie immer herabgeblickt haben, bald doppelt so viel verdienen wie sie und mit Frau Doktor angeredet werden?”
“Dreieinhalb Jahre, das ist viel zu lange für einen Arzt, aus dem Beruf heraus zu sein”, seufzt Nina Haddad in ihrem roten Sofa. Schauen wir, ob man es anders machen kann.
Wir befinden uns in Warschau, im schicken Viertel “die rote Schweinebucht”, wo bis vor kurzem das Luxusghetto für die Parteioberen war. Die Sprachschule Paragona versorgt schwedische, dänische und britische Praxen mit medizinischem Personal. Hier holte sich Lars Wigren seine polnische Ärztin.
“Liebe Frau Larsson,
Sie haben einen Termin am 15. August, aber ich kann Sie am diesem Tag
leider nicht empfangen, weil ich nach Stockholm auf einen medizinischen
Kongress fahre. Ich kann Sie stattdessen am 22. oder 23. August
empfangen, aber ich bitte Sie, einen neuen Termin mit meinem Sekretär
auszumachen … Ich bitte um eine schriftliche Antwort, damit ich weiß,
dass wir einig sind. Herzliche Grüße. Ihre Ärztin Agniezka.”
Das bemerkenswerte an diesem Brief (der eine Prüfung ist zum Thema: Schreib einen Brief an einen Patienten) ist nicht der Grammatikfehler im ersten Satz. Sondern dass er am 24. Juli von einer Person geschrieben wurde, die am 7. Januar noch kein Wort Schwedisch konnte.
Das Konzept von Paragona ist es, in höchstens sieben Monaten so viel Sprache zu lehren, dass ein polnischer Arzt, der in Härnösand, Edbjerg oder Leeds landet, vom ersten Tag an genauso gute Versorgung erbringen kann wie ein einheimischer Arzt. (Für Psychiater dauert es acht Monate.) Seit 2003 hat Paragona Dänemark, Norwegen, England, Frankreich und Schweden mit über 500 Doktoren versorgt. Es scheint also als ob das größte Problem bei der Integration (dass der Einwanderer zu schlecht Schwedisch kann, um eine vernünftige Stelle zu bekommen) vielleicht gar nicht so groß zu sein braucht.
“Hallo, wie geeeeht es euch? Worüber sollen wir heute reden?” Mit gekünstelter Mädchenstimme macht Paragona-Lehrerin Lisa nach, wie SFI klingen kann. Kindergarten für Erwachsene, versteht man, Gruppenarbeit, Tätscheln. Völlig fehl am Platz, findet Lisa. Sie hat selbst nichts gegen Demokratie im Klassenzimmer, aber “die meisten, die nach Schweden kommen, seien es Usbeken, Iraker oder Polen, sind Lehrer gewohnt, die einen Plan haben und wissen, was sie mit jeder Unterrichtsstunde wollen. Mit diesem Stil lernen sie schnell. Das schwedische Modell verwirrt sie, weil nichts von ihnen erwartet wird. Dann gewöhnen sie sich leider daran.” Ihre polnischen Studenten verlangen, jeden Freitag eine Prüfung zu schreiben. Soll der Sprachkurs effektiv sein, sagt Lisa, muss er an den Schüler angepasst werden. Trichter für die Polen, freiere Formen für Amerikaner, Spiele mit Worten für die, die nie in der Schule waren. (Siehe da, ein Beitrag zur Integrationsdebatte. Wenn wir als gegeben voraussetzen, dass eine Schulform, die an schulüberdrüssige Teenager aus Täby angepasst ist, die beste für den irakischen Gefreiten und den Arzt aus Ethiopien ist – zeugt das dann von unserer Leidenschaft zur Gleichbehandlung – oder vielleicht unserer Arroganz?)
Lisa will nicht, dass ich SFI mit Paragona vergleiche, das sei ungerecht. Paragonas Schüler sind auf gleichem Niveau, ans Studieren gewöhnt, haben ein klares Ziel und arbeiten gegen eine Deadline. Nichts von alldem trifft auf die Mehrheit der SFI-Klassen in Schweden zu. Doch zugleich regt sie sich über ihre Erinnerung an die träge Stimmung im Klassenzimmer auf. “SFI sollte klarmachen, dass die Sprache das Leben bestimmt, der Schlüssel zu ihrer Zukunft, dass die Chance nicht wiederkommt, wenn sie diese eine vergeigen.” Aber es ist als ob Schweden weder sich selbst noch die Einwanderer wirklich Ernst nimmt.
Der Ernst in Warschau: acht Stunden Unterricht, zwei Stunden Hausaufgaben an fünf Tagen die Woche. Die Ärzte wohnen auf dem Campus, schalten sie den Fernseher ein, laufen schwedische Nachrichten, wollen sie Filme sehen läuft “Raus aus Åmål” oder gleich Ingmar Bergman. Ein Psychiater fragt sich, ob “Das Schweigen” ein realistischer Film ist. Er schaut lieber den schwedischen “Landarzt”.
Ich darf bei einer Übung der ärztlichen Untersuchung dabei sein. “Sag
was ich tun soll”, sagt der Lehrer, “aber ich befolge nur perfektes
Schwedisch”.
“Geh drei Schritten vor. Lege die Handflachen gegen den Wind.”
“Hier bläst kein Wind.”
“Wand. Ziehe bitte die Zunge heraus.” (Der Lehrer führt die Hand zum
Mund.)
“Nein, nicht so! Ich meine … reich mir die Zunge?”
Die Schwedischklasse verbiegt sich vor Lachen. Auch ich trockne eine Träne und erinnere mich, dass das so war als ich vor 40 Jahren Schwedisch lernte. Unser Lehrer Jonas Wall meinte, dass Wörter am besten hängenbleiben, wenn man sie an Gefühlen festmacht. Wenn wir also Grammatik übten, provozierte er Drama in unserem Keller: “Die da drängelt sich in der Schlange vor, was sagst du?” Nach drei Monaten konnten ein Pole und ein Libanese miteinander über den Sinn des Lebens streiten – auf Schwedisch. Aber das war eine andere Zeit. Heute muss man nach Warschau fahren, um so etwas zu finden.
“Sie setzten mich vor einen Computer und sagten ich solle nach Wissen suchen. Ich wollte Grammatik lernen, sie sagten das sei nicht nötig. Sie gaben mir Aufgaben, für die sie keine Zeit zum Korrigieren hatten. An einigen Tagen hatten wir gar keinen Lehrer. Ich habe fünf Monate meines Lebens vergeudet.”
Das erzählt Katarzyna, die im Frühling versuchte, in Rosengård Schwedish zu lernen. Die Firma Meritausbilung AG, an die sie von der Gemeinde verwiesen wurde (nein, sie durfte die Schule nicht selbst wählen), betreibt auch in Sjöbo und Tomelilla SFI-Kurse. Dort unterrichtete man im Frühling 2007 kurdische Analphabeten und iranische Akademiker in der gleichen Gruppe. 2,8 Lehrer sollten den 90 Schülern “individuell angepassten Unterricht” geben, für 30 Stunden pro Woche und einen Lohn knapp über dem der Müllmänner der Gemeinde.
Ich behaupte nicht, dass diese Schule typisch ist. Aber sie ist gut genug für unsere Behörden. Ein frischer “Beurteilungsbericht” (25.09.08) fand nichts zu beanstanden.
Selbst gerechnet komme ich auf 250 Stunden Privatunterricht, die sich Katarzyna mit zwei anderen Schülern hätte teilen können, wenn das Geld der Steuerzahler nicht stattdessen an die Meritausbildung AG verschenkt worden wäre.
Lisa, Edward Issa, Nina Haddad und Katarzyna heißen in Wirklichkeit anders.
Maciej Zaremba
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Übersetzt aus dem Schwedischen. Für mehr Information dazu, zur
Lizenz und zu den fünf anderen Teilen der Artikelserie bitte hier
entlang.
Svenska originalet publicerades i DN, 2009-03-01. Jag tackar Maciej Zaremba för tillstånd att publicera min översättning.
Ein Reh, im Juli diesen Jahres aus dem Zug von Dalarna nach Hause
fotografiert. Mehr vom Bild bekommt man zu sehen, wenn man darauf
klickt.
Ein idyllisches Sträßchen mit seltsamem Namen in Mora. Ko ist die “Kuh”, knäppa bedeutet “schnalzen” oder “schießen” und ein gränd ist eine “Gasse”. Was der Mensch, nach dem diese Gasse benannt wurde, genau mit der Kuh gemacht hat, kann ich nur raten. Vielleicht war er Schlachter.