Aufstehen, es ist Freitag und der erste der Osterfeiertage! Was ist das
da draußen? Wolken, wo doch bestes Wetter vorhergesagt ist? Egal, der
Plan steht, um halb acht aus dem Haus zu kommen. Seil, Geschirr,
Karabiner, Essen, Trinken – check! Raus. An der Bushaltestelle
angekommen fängt es an zu regnen. Und wird immer mehr. Handy
hervorholen, Wetterbericht noch einmal: strahlender Sonnenschein. Hmmmm.
Konferieren, ob wir abblasen sollen. Auf ein zögerliches Nein kommen.
Wir fahren. Bus, dann S-Bahn, Richtung Nord-Westen der Hauptstadt.
Kungsängen, die Königsaue, ist unser Ziel. Ein guter Kilometer
Fußmarsch, dann sind wir da, am Ryssgraven, dem Russengrab, einer der
populäreren Kletterklippen um Stockholm. Irgendwann werde ich einmal
nachschauen, warum die Stelle so heißt. Nicht zum schmalen Landstreifen
zwischen dem fünfundzwanzig Meter hohen Fels und dem Wasser gehen,
sondern von hinten oben an den leicht zugänglichen Gipfel. Über die
Kante zu schauen, so hoch über dem See, ist weniger gruselig als beim
letzten Mal. Geschirr an, Seil aus dem Rucksack, Verankerung bauen. Sich
erklären lassen, wie man sich abseilt. Schon schlau, das mit dem
französischen Prusikknoten am zweiten Karabiner. Hier scheint es nicht
geregnet zu haben, der Stein ist trocken, sehr schön. Und ist das da die
erste Stelle blauer Himmel? Abseilen zum Fuß der Klippe. Auf die
Kollegen warten und derweil das Buch studieren, in dem alle
Klettermöglichkeiten in und um Stockholm beschrieben sind. Über
dreihundert Seiten dicht gepackt mit Information hat dieser
Stockholmsföraren. Auch nur einen kleinen Teil dessen zu klettern wird
Jahre dauern. Schön, am Anfang eines Hobbys zu sein und die großen
unentdeckten Möglichkeiten vor sich zu sehen. Für den Anfang eine der
einfacheren Kletterrouten aussuchen und sich wieder ins Seil einknoten.
Gar nicht so einfach, diese uralten, von den Eiszeiten glattgehobelten
Klippen hochzukommen. Als ich mich auf halber Höhe kurz ausruhe und
umdrehe zum Aussicht genießen, bricht die Sonne durch die Wolken und
schickt ihre wärmenden Strahlen durch die noch ziemlich kalte Luft. In
den nächsten Minuten sollte die Wettervorhersage endlich recht bekommen.
Bald kommen andere Kletterer dazu und wir haben das Russengrab nicht
mehr für uns alleine. Zwei, drei Routen für jeden später ist es Zeit für
die Fika; belegte Brote, Äpfel, Bananen und eine
Rosinen-Moosbeeren-Nussmischung geben genug Kraft für weitere
Anstrengungen. Sich an einem schwereren Aufstieg versuchen. Scheitern.
Trotzdem jede Menge Spaß haben bis es an den Nachhauseweg geht. Dort
angekommen der anrauschenden Müdigkeit keine Zeit geben, sondern die
Laufschuhe an und das Wetter ausnutzen als käme es nie wieder. Knapp
zehn Kilometer an dem der drei Gewässer vor unserer Haustür entlang, wo
ich seit dem Herbst nicht war, dem Lilla Värtan. Das Einschlafen
später am Abend dauert höchstens zehn Sekunden.
Aufstehen, es ist Samstag und strahlend blauer Himmel.
Frühstück, Essen und Trinken zum Mitnehmen vorbereiten. Den
Führer für Draußen-Aktivitäten um Stockholm, das Fernglas und das
Vogelbuch nicht vergessen. Sich wieder einmal bewusst werden, welch
tolle Großstadt dies ist für Freiluftmenschen. Weniger als eine Stunde
mit dem öffentlichen Nahverkehr und man ist entweder im Schärengarten,
am Bergsteigen oder mitten im naturgeschützten Wald. Es soll in die
selbe Richtung gehen wie gestern, nur nicht ganz so weit. Veddesta ist
ein eher hässliches Industriegebiet wie es in den Vororten viele gibt,
doch direkt dahinter beginnt der Upplandsleden, der Wanderweg, der
sich vierhundertzwanzig Kilometer nach Norden, an Uppsala vorbei bis
fast nach Gävle erstreckt. Die südlichste Etappe durch Görvälns
Naturreservat steht heute an. Kurz zögern ob feste Wanderschuhe
angesagt sind oder das genaue Gegenteil, eine flexible zweite Haut zum
“barfuß” gehen, aka
FiveFingers. Letzteres.
Schon im Bus auf die Schuhe angesprochen werden, obwohl ich doch das
eher unauffällige braune Modell trage. Dem Fragenden versichern, dass
man damit auch laufen gehen kann, aber es langsam angehen lassen sollte.
Schließlich sind die meisten Waden und Achillessehnen von Schuhen mit
Absätzen weniger Arbeit gewohnt.
An der Zielhaltestelle angekommen öffnen sich einem schon bald weite
Feuchtwiesen, und Wälder mit Meeren an Buschwindröschen und
Leberblümchen. In der Sonne bei wenig Wind kann man fast vergessen, dass
es noch unter zehn Grad hat, und es kommt einem seltsam vor, dass die
Bäume noch kein Laub haben. Nur an den Birken kann man mit etwas gutem
Willen das erste zarte Grün erkennen. Das wird sich jetzt innerhalb von
Tagen ändern; die Natur steht vor der Explosion und wird sich beeilen,
den kurzen Sommer auszunutzen. Auf dem Weg zur Gåseborg, einer
vormittelalterlichen Burgruine hoch über dem See Mälaren sehen wir zwei
junge Kreuzottern, die sich auf dem Weg sonnen und sich ins Gebüsch
schlängeln als wir näherkommen. Die Spaziergänger mit Hund ein paar
hundert Meter weiter warnen wir besser trotzdem. Deren allzu negative
Reaktion auf die putzigen Tierchen lässt es uns jedoch fast bereuen. Auf
dem weiteren Weg – fünf Stunden inklusive Fika-Pause – wird es eine
ansehnliche Liste an Arten werden, die wir zu Gesicht bekommen. Zu den
Kreuzottern kamen noch Ringelnattern und Waldeidechsen. Hase und Rehe.
Mäusebussard und Fischadler. Schellenten, Gänsegänger, Haubentaucher und
Eiderenten. Eichelhäher, Zeisige, Singdrosseln, Buntspechte und
Bachstelzen. Nur um ein paar zu nennen. Lustig, dass ich für die meisten
Arten nur die schwedischen Namen kannte und eben eine ganze Reihe der
deutschen nachschlagen musste. Über Stock und Stein geht es zum Schloss
Görväln, wo man auf mehr Spaziergänger trifft. Das Café dort hat jedoch
leider zu. Also gleich weiter die letzten Kilometer bis zur
S-Bahn-Station und nach Hause. Heute braucht es keine zusätzliche Runde
Jogging.
Aufstehen, es ist Sonntag morgen und strahlend blauer Himmel.
Kletterzeug packen und auf zu einem neuen Berg, dem Ekoberget östlich
der Stadt, zwischen Nacka und Värmdö. Wieder oben anfangen, allerdings
mit zwei Mal abseilen um erst an den Ankerplatz zu kommen. Die vierzig
Meter über dem Wasser und so steile Klippe, dass man nicht den Boden
sieht, machen den Schritt über die Kante zum Nervenkitzel und lassen
einen die Ausrüstung lieber doppelt kontrollieren. Doch es geht
natürlich alles gut. Unten angekommen wimmelt es von Kletterern. Der
Stockholmföraren lügt nicht, wenn er schreibt, dass dies eine der
beliebtesten Klippen Stockholms ist. Wir stellen uns als Anfänger ein
wenig unbeholfen an und sind etwas im Weg für andere. Doch ein paar
nette Worte bringen die Stimmung wieder ins Lot. Ein paar Routen,
Hautabschürfungen und blaue Flecken später sitzen wir schon wieder im
Bus. Sichtlich braungebrannt nach drei recht intensiven, doch absolut
herrlichen Tagen im Freien.
Ich hoffe, Ihr hattet auch gute Osterfeiertage.
Erwähnte Bücher:
Stockholms Friluftsliv von Hjelmstedt, Sundvall und Wåhlin (ISBN
9163179245). Ca 300 Seiten kompakte und schön bebilderte Beschreibungen
der wichtigsten Möglichkeiten zum Eislaufen, Skifahren, Wandern,
Radfahren, Paddeln, unter andere. Ein Muss für jeden, der hier lebt,
oder Urlauber, die mehr als nur die Innenstadt sehen wollen.
Stockholmsföraren von Widerberg und Jelinek (ISBN 9789163332050). Der
ultimative (weil als einziger so komplette) Führer für die hunderten
Klippen in der Gegend.