Die Wahl zum EU-Parlament hat begonnen. Holland hat schon gewählt
(leider
falsch );
in Deutschland, Österreich und Schweden ist Sonntag Wahltag, auch wenn
hierzulande schon viele von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, bei
einem der Vorab-Wahllokale vorbeizuschauen, die seit gut zwei Wochen
geöffnet sind.
Vorab für all die, die nicht bis zu Ende lesen wollen: Geht wählen!
Wenn euch keine der Parteien passt, macht die Stimme ungültig. Das geht
mit in die Rechnung ein – im Unterschied zur nicht abgegebenen Stimme.
Es folgen wie versprochen ein paar Gedanken zur wichtigen Frage, was man
denn wählen soll – natürlich aus meiner eigenen Perspektive. Zuallererst
muss man sich, finde ich, klarmachen, dass nicht die Politik zur
Abstimmung steht, die die Parteien bezüglich des Verhältnisses zwischen
dem eigenen Land und der EU vertreten. Stattdessen geht es darum, welche
Politik man künftig von der EU sehen will. Dass sich, gerade in
Schweden, viele Menschen und auch einige Parteien noch nicht damit
abgefunden haben, dass Politik von der EU kommt, die jeden betrifft,
sollte eigentlich keine Rolle spielen. Tut es aber natürlich doch, denn
ich finde es widersinnig, eine Partei, deren Programm für “weniger EU”
und mehr “Eigenständigkeit” der Nationen steht, ins EU-Parlament zu
wählen. Es geht darum, bessere EU-Politik zu machen, nicht weniger.
Weiterhin ist wichtig zu bedenken, dass die europäischen Parteien sich
zu
Fraktionen
zusammenschließen, die meist gemeinsam abstimmen. (Fraktionszwang gibt
es jedoch keinen.) Folgende fünf Parteigruppen sind für die deutschen
und schwedischen Parteien relevant.
Parteigruppe Sozialdemokraten Christdemokraten/Konserv
schwedische Socialdemokraterna ative
Partei(en) SPD Moderaterna,
deutsche Partei(en) Kristdemokraterna
CDU, CSU
Man stimmt also indirekt auch immer für die Parteien aus den anderen
Ländern, die im gleichen Block sitzen wie die “eigene” Partei. Das
bedeutet zum Beispiel, dass jeder, der konservativ (CDU/CSU bzw.
Moderaterna oder KD in Schweden) wählt, auch für die italienische
Popolo della Libertà von Berlusconi stimmt, bei der seit Kurzem auch
die Neofaschisten dabei sind. Das ist für mich genauso ausgeschlossen
wie andere rechtspopulistische Parteien.
Wenn es um Wirtschaftsfragen geht, bin ich im Grunde Sozialdemokrat. Mit
der schwedischen SAP habe ich aber zwei Probleme. Zum einen waren die
schwedischen Sozialdemokraten damals treibende Kraft bei der Richtlinie
zur
Vorratsdatenspeicherung
und haben aus meiner Sicht die falsche Haltung zu Urheberrechts- und
Überwachungsfragen. Zum anderen gehören sie zu denen, die sich im Grunde
unsicher sind, wie gut die EU für Schweden eigentlich ist. Frei
bewegliche Arbeitskraft, einer der Grundpfeiler der europäischen
Einigung, sehen sie als Bedrohung für das “schwedische Modell” der
Tarifverträge.
Die hiesigen Linken wollen Schweden ganz aus der EU austreten lassen,
stehen also außer Frage.
Was ist mit den Grünen? Wenn ich mich aus dem schwedischen
Wählerregister aus- und ins deutsche eingetragen hätte, hätte ich
wahrscheinlich grün gewählt. Die hiesigen Grünen haben sich aber gerade
erst dazu durchgerungen, die schwedische EU-Mitgliedschaft überhaupt
gutzuheißen. Sie sind gegen den Euro und den Vertrag von Lissabon, was
zwar eigentlich keine für diese Wahl relevanten Fragen sind, sie mir
aber extrem unsympathisch macht. Außerdem sind sie sehr links und eher
mit dem Fundi-Flügel der deutschen Grünen zu vergleichen. Andererseits
haben sie (neben den offensichtlichen Unweltfragen, in denen sich die
schwedischen Parteien aber weitgehend einig sind) weniger Überwachung
und eine Reform des Urheberrechts auf dem Programm, um privates
Filesharing zu legalisieren.
Internetfragen scheinen in Deutschland gerade erst mit der
“Zensursula”-Debatte
in die Allgemeinheit durchzudringen. In Schweden ist man da etwas
weiter. Die FRA-Debatte, das
PirateBay-Urteil und das
IPRED-Gesetz waren jeweils wochenlang Schlagzeilen wert und haben die
Piratenpartei hervorgebracht, wie wohl den Einzug ins EU-Parlament
schaffen wird (s.u.). Mit deren Programm stimme ich zwar völlig überein,
habe aber trotzdem zwei Probleme mit ihnen. Zum einen ist es eine
Ein-Fragen-Partei, die zu allem außer dem Schutz der Privatsphäre und
der radikalen Reform der Urheber- und Patentsysteme keine Stellung
beziehen. Auch wenn ich diese Fragen für lange vernachlässigt und
wichtig halte, gibt auch andere wichtige Themen. Die Piraten wollen im
Parlament entweder der Gruppe der Grünen oder den Liberalen beitreten
und in allen anderen Fragen mit dieser Gruppe abstimmen, was ich
wiederum für akzeptabel halte. Allerdings stellen sich die Piraten gegen
den Lissabon-Vertrag, was erstens unnötig ist, weil das keine Frage des
EU-Parlamentes ist und der Vertrag von Schweden schon ratifiziert ist,
und zweitens die Piratpartei nach eigener
Aussage
als Nachfolger der EU-kritischen Juni-Liste platziert, die in der
letzten EU-Wahl drittgrößte schwedische Partei wurde und für mich
unwählbar ist.
Bleiben die Liberalen. Wenn man mit “liberal” die Stärkung der
Bürgerrechte und Freiheiten meint, bin ich dafür zu haben. Wenn man
damit die neoliberale Dereglierung der Märkte meint, dann nicht. Ich
finde es ein wenig absurd, dass dieselbe FDP, die den Schlamassel der
Banken- und Wirtschaftskrise mit ihrer Politik mitverursacht hat, in
Deutschland immer bessere Umfragewerte bekommt. Das schwedische Pendant
Folkpartiet ist jedoch weniger marktliberal und hat mit die beste
EU-Politik.
Schweden hat noch eine zweite Partei, die in der liberalen Gruppe im
EU-Parlament landen wird: Die Centerpartiet bezeichnet sich selbst als
“sozial-liberale grüne Partei”. In der Tat kann man sie die zweite grüne
Partei Schwedens nennen (auch gegen Kernkraft) und sie haben in den
Fragen der Piratenpartei glaubwürdig ähnliche, wenn auch weniger
radikale Positionen wie diese vertreten. Außerdem behauptet der
EU-Profiler, sie liege
mir am nächsten. Dass das Zentrum gegen die Einführung des Euro in
Schweden ist, spielt ja wie gesagt bei dieser Wahl keine Rolle. Bei
einer Wahl zum schwedischen Reichstag würde ich sie (wenn ich dürfte)
nicht wählen.
Bei alldem ist noch gar nicht berücksichtigt, dass bei der Wahl die
Direktstimmen auf dem Wahlzettel viel genutzt werden und man “seinen”
Kandidaten ins Parlament schicken kann. In der Tat sind die
EU-Parlamentariker recht frei und ein überzeugender Kandidat kann trotz
“Fehlern” seiner Partei gute Arbeit leisten. Auf die einzelnen
Kandidaten werde ich jetzt nicht noch eingehen, aber ich habe mit
Interesse deren Antworten auf Bürgerfragen gelesen, die man im
EU-Portal von DN findet.
Summa summarum bleiben mir zwei Möglichkeiten:
- Piratenpartei wählen und die Kandidatin auf Platz Zwei ankreuzen.
Ich habe Amelia Andersdotter vor einiger Zeit kurz getroffen und
trotz ihres jungen Alters von 21 Jahren teilt sie die Torheit ihrer
Partei und des Kandidaten auf Platz Eins nicht, den EU-Vertrag
abzulehnen. Nebenbei würde ich die grüne Parteigruppe stützen (wenn
die Piraten diese auswählen) ohne für die schwedischen Grünen
stimmen zu müssen. Sollten sie bei den Liberalen landen, deckt sich
das mit der zweiten Wahlmöglichkeit:
-
*Centerpartiet* oder *Folkpartiet* wählen, wahrscheinlich eher erstere.
Die entscheidende Frage ist wohl, ob ich die Themen der Piraten für
wichtig genug halte, für eine Ein-Frage-Partei zu stimmen (was ich an
sich für problematisch halte), oder ob ich ihren ohne Frage
existierenden Einfluss auf die etablierten Parteien schon ausreichend
finde.
Zuletzt noch zu den [aktuellen
Umfragen](http://www.dn.se/polopoly_fs/1.884775!synovate.swf) in
Schweden: Acht Parteien scheinen die 4%-Hürde zu nehmen. Die
Sozialdemokraten (26%, 5 Sitze), die Moderaten (22%, 5 Sitze), Grünen
und Folkpartiet mit je 11% (2 Sitze), Linke, Zentrum, Christdemokraten
und Piraten mit je um die 6% und einem Sitz. Die Piraten werden also
eher nicht drittstärkste Partei wie [einige
behaupten](http://www.taz.de/1/politik/europa/artikel/1/piraten-werden-ins-eu-parlament-einziehen/),
scheinen aber ihren Platz im EU-Parlament in der Tasche zu haben.
Ich habe kurz nach einer Umfrage/Vorhersage für die Wahl in Deutschland
gesucht, aber keine gefunden – seltsam. Wie wählt ihr und warum?