Bald ist Schweden das einzige Land in Europa, das von neuen Mitbürgern nicht mehr verlangt, als dass sie nicht im Knast waren. Im fünften Teil der Serie Warten auf Schweden beleuchtet Maciej Zaremba, was ein Bürger seinem Land versprechen sollte.
Ein Gericht in Kanada hat das Handelsverbot an Sonntagen für diskriminierend befunden, weil es Juden und Muslime dazu zwingt, ihre Geschäfte an zwei Tagen der Woche geschlossen zu halten. Ich frage den Vorsitzenden der Schwedendemokraten, wie ihm dieses Urteil gefällt: Alle Geschäfte sollen einen Tag in der Woche geschlossen sein, aber nicht notwendigerweise am Sonntag.
Nein, das gefällt Jimmie Åkesson nicht. Er ist zwar selbst nicht gläubig, sondern eine “Mischung aus Agnostiker und gar nichts”. Aber sollte ein solches Problem in Schweden aufkommen, dann sollten sich alle nach den schwedischen Feiertagen richten.
In Ian Burumas Buchreportage “Mord in Amsterdam” treffen wir Aboutaleb Ahmed, den Gemeinderat, der in Holland für getrennten Schwimmunterricht für muslimische Mädchen kämpft. Ihm leuchtet nicht ein, wie es die Grundfesten der Gesellschaft erschüttern soll, der Prüderie nachzugeben. Doch der gleiche Ahmed findet, dass Marokkaner, die holländisches Recht nicht befolgen wollen, nach Marokko zurückkehren sollten.
In ganz Europa wird diskutiert, was “die multikulturelle Gesellschaft” eigentlich bedeutet. Wer soll sich wem anpassen – und wie weit? Welche Zusammenstöße von Kulturen sind einfach nur bereichernd und welche bedrohen das friedliche Zusammenleben? Der Trend ist eindeutig, erfährt man aus Roger Brubakers Buch “Ethnizität ohne Gruppen”: Der Multikulturalismus, wie er jahrzehntelang die Politik beherrscht hat, hat seine Versprechen nicht eingelöst. Wo man sich ein farbenfrohen Mosaik erhofft hatte, wuchsen graue Ghettos. Wo man dachte, man bezeuge der Kultur der anderen Respekt, trug man zu ihrem Ausschluss aus der Gesellschaft bei. Das Recht zum Anderssein, ein schönes liberales Prinzip, konnte auch als Verbot dazuzugehören interpretiert werden.
Es ist paradox, dass in Deutschland, wo es keine “Integrationspolitik” gibt, die Arbeitslosigkeit bei Einwanderern halb so hoch ist wie im multikulturell führenden Holland. In der Bundesrepublik werden Einwanderer auch Gewerkschaftsmitglied, was anscheinend besseren Schutz gegen Diskriminierung bietet als alle holländischen Ombudsmänner zusammen.
Der Multikulturalismus machte es nicht leichter, Marokkaner in Amsterdam zu sein, aber schwerer, Holländer zu werden. Einige wurden sich ihrer grundlegenden Werte unsicher. Ist es feministisch, die Macht arabischer Väter über ihre Töchter zu beklagen, oder modrig, ethnozentrisch und wert, sich dafür zu schämen? Auch in Schweden gibt es heutzutage “antirassistische Feministen”, deren “anti” sich gegen die Feministen richtet, die anzudeuten gewagt haben, dass Ehrenmorde im Libanon mehr akzeptiert sind als in Norwegen.
Ich erzähle nichts Neues, sondern will auf Folgendes hinaus. Ich wünsche mir, dass Schweden den Fehler Hollands nicht wiederholt. Ich lese in Ian Burumas Buch, der Populist Pim Fortuyn wäre nie so groß geworden, wenn die Stützen der Gesellschaft die Wähler nicht zu ihm getrieben hätten, indem sie den Begriff “Rassismus” gegen die anständigsten Kritiker des Multikulturalismus missbrauchten (darunter der Soziologe Paul Scheffer, dessen “Het multiculturele drama” davor warnte, dass die Politik Armut zum Dauerzustand macht). Die Folge war eine ordentliche Gegenreaktion. Die Populisten bekamen die öffentliche Meinung hinter sich. Heute werden im liberalen Holland offen diskriminierende Gesetze verabschiedet.
Ich finde meine Staatsbürgerschaftsbescheinigung nicht mehr. Muss sie verloren haben, im Zorn, gleich als sie ankam. Es war ein Massenausdruck, Modell 70er-Jahre. Ich glaube mich zu erinnern, dass die perforierte Kante noch dran war. Und ich Idiot hatte erwartet, ins Stadthaus geladen zu werden, Händeschütteln, eine Blume vielleicht, ein Minimum an Zeremonie. Stattdessen finde ich die Urkunde, dass ich 1969 zum Beamten bei der Post “verordnet” wurde. Briefträger also. Das steht auf Urkundenpapier mit Unterschrift und Stempel.
Bald ist Schweden das einzige Land in Europa, das von neuen Mitbürgern nicht mehr verlangt, als dass sie nicht im Knast waren. Oder besser gesagt: das sich nicht mehr von ihnen erwartet. Man kann Schwede werden, ohne zu wissen, was das Wort “Medborgare” bedeutet, ob wir mit oder vielleicht gegen Hitler gekämpft haben, oder mit welchen Werkzeugen wir Homosexuelle hinrichten. Die offizielle Erklärung ist, dass sich neue Mitbürger auf diese Weise zugehöriger fühlen. Andere halten es für Gleichgültigkeit, notdürftig als Rücksicht verpackt. Ich gehöre zu letzteren. Schulterzucken hat mich noch nie willkommen fühlen lassen.
Es ist ein wenig paradox von einem Land, das Meistern seiner exotischen Sitten (du sollst immer Hände schütteln, aber nicht auf der Arbeit) zu erwarten, sich aber nicht darum zu scheren, ob der Mensch die Sprache spricht, in der dieselben Sitten vermittelt werden. (Versteht mich nicht falsch. Das Recht auf Asyl kann nicht an Sprachfertigkeiten geknüpft werden. Also soll man Bürger werden können, ohne Schwedisch zu sprechen. In einigen Fällen, wie dem 59-jährigen Ambro aus einem früheren Artikel, ist das unvermeidlich. Aber es kann nicht der wünschenswerte Regelfall sein.)
In den USA, in Kanada, Großbritannien und anderen Ländern müssen sich neue Mitbürger aktiv der Gemeinschaft anschließen: eine Ahnung davon haben, wie das Land regiert wird, und das Modell gut finden. Die Form variiert, vom Zeugnis, dass man einen Kurs besucht hat, bis zu regelrechten Examen und Anwesenheitspflicht bei der Zeremonie. Es ist interessant, was laut dem britischen Test das Allerbritischste ist. Ich stelle die Frage ein paar Bekannten, alle raten falsch. “Britain is a country where people of many different cultures and faiths live. What brings British people together is …” (hier glauben die meisten, dass etwas zur Sprache, der Geschichte oder der Königin kommt) â€?... that they listen to different points of view, they have respect for equal rights and they believe that community is important.â€?
Seit September gilt auch in Deutschland ein Einbürgerungstest. Nach vielen Kontroversen blieben nur Fragen übrig, wie das Land und die EU regiert werden, dazu moderne Geschichte und ein wenig Tradition. Ich kann fast kein Deutsch, aber habe den Test problemlos geschafft. Es ist nicht schwer, die richtige Antwort aus den gegebenen auszuwählen: “Pfingsten ist ein… 1. christlicher Feiertag. 2. deutscher Gedenktag. 3. internationaler Trauertag. 4. bayerischer Brauch.” Oder: “Was ist ein deutsches Gesetz? 1. Man darf auf der Straße nicht rauchen. 2. Frauen müssen Röcke tragen. 3. Man darf Kinder nicht schlagen. 4. Frauen dürfen keinen Alkohol trinken.” Nur um die leichtesten zu nennen.
“Ich habe deutsche Freunde getestet. Mehrere haben den Test nicht bestanden”, sagt Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Er hat haufenweise Kritik daran, wie Deutschland seine Einwanderer behandelt. “Die Bedingungen für die Staatsangehörigkeit werden ständig verschärft. Damit wir uns nicht willkommen fühlen?” Aber er will den Test nicht verwerfen. “Wenn die Regierung will, dass die Deutsch-Türken bessere Deutsche werden als sie selbst, ist das in Ordnung für mich.” Ich frage ihn, was ich tun müsste, damit er mich als Landsmann ansehe. “Lerne Deutsch”, sagt er, “wir müssen uns ja verstehen.” Soll ich nicht büffeln, wie Hitler an die Macht kam? “Das musst du wissen. Aber ich glaube das kommt mit der Sprache.”
Fatma Erdem, zwanzig Jahre jünger als Kolat, schneidet Grimassen, als der Test zur Sprache kommt. Sie ist selbst Ratgeber in Bürgerschaftsfragen, kam mit elf Jahren aus der Türkei nach Berlin und hält den Test für einen Filter, der Leute mit geringer Bildung außen vor halten soll. Am meisten regen sie die Fragen über den Krieg auf. “Was hat Geschichte mit der Staatsangehörigkeit zu tun?” Doch, sage ich, deutsche Geschichte… Sie unterbricht mich. “Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft. Warum soll gerade die deutsche Geschichte mich formen?”
Nach dieser Replik höre ich nicht mehr, was sie sagt, zu viele Fragen hat sie in Gang gesetzt. Ist Fatmas Gleichgültigkeit gegenüber der deutschen Geschichte nur eine Frage zwischen ihr und Deutschland – oder können auch Nicht-Deutsche eine Meinung dazu haben? Welche Verantwortung haben neue Mitbürger dabei, die alte Geschichte zu verwalten? Fatma ist schließlich genauso wenig Schuld am Dritten Reich wie gleichaltrige Deutsche, aber letztere sind zum ständigen Umgang mit dieser Plage gezwungen. Kommt sie darum herum – mit der Begründung, dass sie nicht von einer Deutschen geboren wurde? Doch dann sind wir wieder dabei, Verpflichtungen (und vielleicht Rechte) an die Blutlinie zu knüpfen.
Man sagt, das mangelnde Interesse Deutschlands daran, aus seinen Türken Mitbürger zu machen, komme daher, dass Deutsche nicht verstehen, warum sich jemand freiwillig zum Deutschen machen will. Mit all dem, was zu diese Zugehörigkeit mit sich bringt. Fatma findet jedoch, dass deren Trauma nicht ihr Problem ist. Sollen die Deutschen über diese Nachricht jubeln – oder sollen sie erschrecken? Eins ist sicher: Ihre Vorstellung vom Deutschsein deckt sich nicht mit der Fatmas.
Ich denke an die postkolonialen Ideologen, die wie der schwedische Integrationsforscher Masoud Kamali der Meinung sind, dass alle Europäer eine gigantische Schuld geerbt haben: Es waren Kolonialismus und Sklavenhandel, die den Wohlstand der Weißen aufgebaut haben, Schweden inklusive. Aber wenn er jetzt selbst Europäer geworden ist und diesen Wohlstand genießt – wird er dann mitschuldig? Oder kann man als Bürger und Ideologe eine Haltung jenseits aller schuldenbeladenen Gesellschaften und aller Forderungen einnehmen? Ich stelle die Frage, weil ich die Antwort nicht weiß.
Wenn der Leser jetzt meint, es rieche nach Metaphysik, dann will ich versichern, dass das Problem keineswegs ein theoretisches ist. Es ist praktisch und hochaktuell, denn Millionen Menschen plagen sich damit: Wofür stehen die Nationalstaaten in der globalisierten Welt, wozu verpflichten sie einen? Was darf man verlangen, was muss man im Namen der Toleranz aushalten? Bleibt sie unbeantwortet und wird abgetan, kann diese Frage leicht zu einer Wunde werden, in die Fremdenhasser ständig Salz streuen können.
Kann man Schwede sein, wenn es einem passt? In guten Zeiten dabei sein und sich in schlechten wegducken? Für den, der seit drei Generationen Svensson heißt, klingt das zu Recht idiotisch. Er hat schließlich keine Wahl. Aber die, die mehrere Zugehörigkeiten mitbringen, kennen die Versuchung: sich bei Gegenwind herauszuwinden. “Wir sind die besten!”, wenn Schweden gewinnt, aber “Pfui Teufel, was sind die schlecht!”, wenn sie verlieren.
Der Philosoph Leszek Kolakowski fragt sich in einem brillanten Aufsatz, was eine Nation ist. Ein Verein freier Individuen wohl kaum, schließlich werden die meisten in eine gegebene Gemeinschaft hineingeboren, inklusive Sprache, Kultur und einer Geschichte aus Heldentaten und Verbrechen. Eine Nation ist eher eine Art moralische Einheit, eine Schicksalsgemeinschaft. Man erbt die Schränke und Gemälde der Vorväter – aber auch ihre Schulden. Kann man sagen: Ich nehme den Hausrat – aber nicht die Schulden? Nein, bei Erbschaftsfragen gilt alles oder nichts.
So verhält es sich auch bei der historischen Verantwortung, argumentiert Kolakowski. Zwar kann kein Fremder von heutigen Deutschen verlangen, dass sie von der Schuld nach Hitler beschwert werden. Aber zum Zwecke ihrer geistigen Gesundheit sollen Deutsche (genau wie alle anderen) eine besondere Verantwortung für das empfinden, was im Namen dieser Nation verbrochen wurde.
Was passiert, wenn man sich weigert? Muss sich das türkische Mädchen in Berlin zwischen der deutschen und der türkischen Schuld entscheiden? Oder, schrecklicher Gedanke, erbt sie gar beide? Sollte es unmöglich sein, sich außerhalb der Spukschlösser der Geschichte zu stellen? “Mich gehen weder eure Leistungen noch eure Verbrechen an, ich bin kein Teil irgendeines Schicksals, ich bin nur mir selbst Rechenschaft schuldig.” Sicherlich kann man das sagen, meint der Philosoph, aber wenn man es auch denkt, dann betrügt man sich selbst. Denn wer alle Gemeinschaft aufgekündigt hat, hat auch seinen Anspruch auf Solidarität aufgegeben. Wenn er einmal in Not gerät, hat er von anderen nichts zu verlangen. “Unsere Gleichgültigkeit wird mit Gleichgültigkeit vergolten werden und wir dürfen nicht klagen.”
Nyamko Sabuni meinte einmal, dass “Integration” im Herzen stattfindet. Wenn man aufhört, “die” zu denken, und mit “wir” anfängt. Ich teile diese Erfahrung. Deshalb sollten wir uns fragen, ob dieser Prozess durch unseren noblen Respekt vor der Vielfalt, der sich zuvorderst darin äußert, Leute ständig daran zu erinnern, wie wenig sie dazugehören, erleichtert wird.
Vor ein paar Jahren musste eine Hochschule ihre Vielfalt beweisen. Man machte Inventur und siehe da – man entdeckte ein paar Individuen, von denen man nicht im Traum gedacht hätte, dass sie einen im Ausland geborenen Elternteil hatten. Einwanderer! Die Rektoren waren glücklich, die Statistik gerettet, die Gelder gesichert. Nur dass der ein oder andere Lehrer mit einem neuen und nicht ganz behaglichen Gefühl in der Magengegend nach Hause ging.
Vielleicht kann man nicht alles gleichzeitig haben: einverleibt und in seiner Eigenheit wahrgenommen zu werden. Nichts illustriert das besser als die Geschichte von Akilah. In Schweden, wohin er zunächst kam, fragte man interessiert wo er her kam, lobte sein Schwedisch und bemühte sich, seinen Namen richtig auszusprechen. Er wusste das zu schätzen. Als er dann in die USA zog, fragte niemand nach irgendetwas und man nannte ihn Al. “Excuse me, my name is Akilah.” “C’mon Al, you’re American now!”, war die Antwort, gefolgt von einem kräftigen Klaps auf den Rücken. Akilah (oder Al) hat wirklich ein Problem. Er findet, er hat ein Recht auf seinen Namen. Andererseits wurde er in Schweden nie Schwede genannt. Oder auf den Rücken geklopft.
Maciej Zaremba
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Übersetzt aus dem Schwedischen. Für mehr Information dazu, zur
Lizenz und zu den fünf anderen Teilen der Artikelserie bitte hier
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Svenska originalet publicerades i DN, 2009-03-12. Jag tackar Maciej Zaremba för tillstånd att publicera min översättning.