Es gibt wieder einmal eine Statistik, die belegt, was viele Schweden insgeheim denken. Denn obwohl man oft eher bescheiden und mit wenig Aufhebens daherkommt, ist es eine weit verbreitete Attitüde unter Schweden, dass sich der Rest der Welt doch bitte hierzulande abschauen möge, wie man es richtig macht. Wobei “es” sich auf alles mögliche beziehen kann, das zu funktionierenden Staat und Gesellschaft alles dazugehört. Einigen geht dieses Selbstverständnis vom Vorbild für weniger entwickelte, weniger tolerante, weniger gleichberechtigte, weniger stabile Länder jedoch zu weit und ich habe schon einige Male Einspruch dagegen gehört.
Doch wenn man auf die nackten Zahlen schaut, ist es nicht selten Schweden, das – zusammen mit den anderen nordischen Ländern – die vorderen Plätze in allerlei Bereichen einnimmt und sich deshalb durchaus als Vorbild eignet. So auch in der letzten Rangliste von Newsweek (nett gemachte interaktive Grafik), die Noten für Gesundheit, Lebensqualität, politisches Klima, Ausbildung und die Wirtschaft vergeben hat und Schweden auf den dritten Platz von hundert Ländern stellt. Nur Finnland und die Schweiz sind nach diesen Kritieren besser. Als Ausreißer ist es das schwedische Schulsystem, das nicht besonders viel Lob erhält.
Deutschland landet übriges auf Rang 12, Österreich auf 18.
Nachtrag 100819: Neulich gab es schon einmal eine Studie, die “beweist”, dass Schweden am besten ist. Außerdem weißt Außenminister Bildt darauf hin, dass Schweden Exportweltmeister für Musik ist – zwar nicht in absoluten Zahlen, aber als Anteil an der Wirtschaftsleistung.
[Videolink](http://www.youtube.com/watch?v=-CMHlD_fOyo), [via](http://www.swedesplease.net/2010/08/05/swedish-video-roundup-5/)
Was ist denn bitte gerade in Deutschland los? Panikmache wie hier oder hier, bloß weil jemand systematisch fotografiert, was eh jeder Passant zu sehen bekommt und auch Bilder von machen darf?
Mich braucht man ja normalerweise nicht lange überzeugen, wenn es darum geht, neue Überwachungsmaßnahmen und Eingriffe in die Privatsphäre von Menschen zu kritisieren. Doch bei Streetview verstehe ich es nicht. Hauswände sind doch dazu da, das private vom Öffentlichen zu trennen. Drinnen privat, außen öffentlich. Deswegen darf jeder Tourist in Ruhe seine Fotos in Städten schießen und dieser öffentliche Raum ist auch wert, verteidigt zu werden, unabhängig davon, ob im Internet oder anderswie. Jedenfalls scheint im Medienrummel gerade die taz als einzige Vernünftig geblieben zu sein.
In Schweden gab es damals kurz Diskussionen, bevor Gesichter von Passanten herausgefiltert wurden, generell werden die Straßenbilder jedoch freudig akzeptiert. Hierzulande waren sogar zwei einheimische Firmen schneller als Google.
Nachtrag 100819: Noch einmal die taz: Wie Schweden Streetview feiert.
Aufmerksame Leser mit gutem Gedächtnis wissen natürlich was ein jämförpris ist. Ein besonders schönes Beispiel kam mir dieser Tage auf einem großen Werbeplakat eines ICA-Ladens auf dem Lande unter: Eine Pfanne, die 290 Kronen kostet und 2,9 Liter fasst wird da beworben. Das ergibt selbstverständlich einen Vergleichspreis von 100 Kronen pro Liter, der wie immer dabei steht.
Wer trotz der Aufmerksamkeit der letzten Monaten noch nichts von Wikileaks gehört hat, dem sei kurz gesagt, dass es sich dabei um einen Zusammenschluss von Aktivisten handelt, die eine sichere technische Infrastruktur bereitstellen, über die Leute, die Zugang zu internen Dokumenten haben und mit deren Veröffentlichung Missstände aufdecken wollen, selbige anonym ans Licht der Welt bringen können. Der deutsche Wikipedia-Eintrag gibt einen guten Überblick, was die kleine Organisation schon alles erreicht hat. Das bisher beste Interview mit Wikileaks Frontfigur Julian Assange gab es neulich bei TED.
Mit Schweden hat Wikileaks insofern zu tun, als dass sie versuchen, die Jurisdiktionen mehrerer Länder auszunutzen, die starken Schutz für Quellen und investigativen Journalismus in ihren Gesetzen stehen haben. Schweden gehört mit seiner Meddelarfrihet, die hier im Blog schon einmal Wort der Woche war zu diesen Ländern und so kommt es, dass es unter anderem ein kleinerer schwedischer Internetdienstleister (bei mir um die Ecke in Stockholm/Solna) ist, der die ehemals geheimen Dokumente in alle Welt ausliefert.
Dazu gibt es auch gleich Spekulationen, inwieweit dies ein Thema auf politischer Ebene zwischen Schweden und den USA ist. Für letztere wurde Wikileaks nämlich durch das Material zu Irak und Afghanistan etwas mehr als unbequem und man versucht gegen den Boten vorzugehen, anstatt die Missstände zu beheben. Der schwedische Außenminister Bildt will von solchen Gesprächen jedoch nichts wissen.
Gleichzeitig wird angezweifelt, ob der Quellenschutz des schwedischen Grundgesetzes wirklich gilt, bloß weil die Server in Schweden stehen. Wikileaks müsse dafür hierzulande mindestens als Herausgeber anerkannt werden und das entsprechende Stück Papier (utgivnigsbevis) besitzen.
Nichtsdestotrotz finde ich es schön, dass meine Wahlheimat ihren Teil dazu beiträgt, Wikileaks möglich zu machen, das ich für die wichtigste Neuerung der letzten Jahre halte, was das Zusammenspiel von Medien und Politik angeht.
Nachtrag 100814: Julian Assange ist zur Zeit in Schweden und gibt Vorträge und Interviews. Heute war er Titelbild und -geschichte der größten schwedischen Tageszeitung. Nach seiner Aussage sind Schweden und Island die Länder, die Wikileaks am positivsten gegenüberstehen. Dass man Geheimnisaufdecker im Land des Öffentlichkeitsprinzips mag, ist wohl auch nicht ganz überraschend.
Assange hat außerdem angekündigt, dass er bald eine zweimonatliche Kolumne im Aftonbladet schreiben wird.
[Videolink](http://www.youtube.com/watch?v=EsuNz4yeWLc) [Madrugada](http://de.wikipedia.org/wiki/Madrugada) sind Norweger, [Ane Brun](http://de.wikipedia.org/wiki/Ane_Brun) auch, lebt aber hier in Stockholm.
Packen. Die Mitbringsel, eingelegte Heringe und Schnaps (Hallands Fläder) nicht vergessen. Laptop, Kamera, alle Kabel, die deutsche Pre-Paid-SIM-Karte fürs Handy, check! Auf zum Bahnhof und in den X2000. Gut fünf Stunden von Stockholm bis Kopenhagen. In der ersten Klasse, die billiger als die zweite war, gehören Kaffee, Kekse und ein Fruchtkorb dazu. Und Internet! was die Zeit sehr entspannt und wie im Fluge vergehen lässt. Nein, nicht wie im Fluge, denn dieses Verkehrsmittel macht keinen Spaß mehr mit all den sinnlosen Regeln und Kontrollen, die einen zum brav von einer Schlange zur nächsten laufenden Schaf degradieren. Zugfahren ist viel zivilisierter. In Kopenhagen ankommen, Gepäck einschließen. Völlig überteuert zwar, aber egal. Ich war noch nie in Kopenhagen und die drei Stunden Aufenthalt wollen optimal genutzt werden. Ebendiese später, mit einigen Kilometern mehr in den Füßen und einer rød pølse im Magen wieder zum Zug. Nachtzug diesmal, der sich bis Frankfurt ganze zwölf Stunden Zeit lassen wird. Der erste Endruck von Kopenhagen: ziemlich positiv, Fahrradstadt, weniger posh als Stockholm und bestimmt auch sehr lebenswert. Im Zugabteil mit drei Dänen und einer Schweizerin. Erstere würdigen meine nicht ganz vergeblichen Versuche, zu verstehen was sie sagen, dann wechseln wir zu Englisch. Irgendwie unfair, dass Dänen Schwedisch verstehen, aber nicht umgekehrt, zumindest nicht auf Anhieb. In Ruhe meine beiden Dosenbiere austrinken, bevor die Sitze zu Betten werden. Dann schläft man besser. Die Schweizerin will Bettplatz tauschen, weil die Leiter zu fehlen scheint. Meinetwegen, wenn sie sich schon in Frankfurt und nicht erst in Basel wecken lassen will. Wenn die Liegen nur 5 Centimeter länger wären, würde ich in Nachtzügen noch besser schlafen. Trotzdem ganz erholt aufwachen und Zeuge werden wie das Zugpersonal in äußerst bizarrem Denglisch, bei dem alle wichtigen Worte auf Deutsch und die unwichtigen auf Englisch waren, jemandem erklärt, wie er von Frankfurt-Süd nach Stuttgart kommt. Drei weitere Stunden in Regionalzügen, Bussen und auf Schusters Rappen verbringen, um in der ehemaligen Heimat zu landen. Die Luft riecht frisch und kühl, unerwartet nach den Berichten von über fünfunddreißig Grad. Es hat ordentlich gestürmt in der Nacht zuvor, sonst wären die drei Stunden auch nur zwei gewesen. Ein paar Tage mit der Familie und alten Freunden verbringen. Der vorletzte noch nicht verheiratete ändert dies. Auf dem Fest viele fast vergessene Gesichter treffen, die heute Ansichten vertreten, die man ihnen nie zugetraut hätte. Früh morgens im Spessart laufen gehen. Rehe, Fasane, einen roten Milan und einen jungen, fast weißen Mäusebussard sehen. Äppelwoi trinken, bei weitem nicht alle hessischen Einflüsse auf Unterfranken sind schlecht. Mal wieder Schafkopf spielen. Sich ein wenig der Nostalgie hingeben und zuhören, wenn einem ältere Verwandte von früher erzählen. Wurst essen. Und richtiges, saftiges, schweres, schwarzes Sauerteigbrot. Man findet mittlerweile auch in Schweden ungesüßtes, durchaus essbares Brot, aber das ist noch eine ganze Klasse weg. Mit Freunden grillen; mehr Wurst. Klamotten kaufen, die Krone ist gegenüber dem Euro wieder auf Vorkrisenniveau und es lohnt sich wieder. Ein Auto mieten und mit vier Menschen und Gepäck voll beladen nach München fahren. In gutem Umweltgewissen baden, diese Fahrgemeinschaft aus Freunden und Familie zusammenbekommen zu haben. München im Feierabendverkehr ist nicht sehr lustig, wenn man nur mal eben jemanden zentral abliefern will. Gleich weiter Richtung Rosenheim und in einem urbayrischen Dorfgasthof zu Abend essen (Pressack sauer mit richtigem, saftigem, schwerem, schwarzem Sauerteigbrot) und mich mit ein paar Halben für die lange Fahrt entschädigen. Gut schlafen. Am nächsten Morgen die paar Kilometer zu den Alpen fahren und mit der Seilbahn zur Kampenwand hoch. Nebel, der dur ab und zu aufreißt. Trotzdem beeindruckend. Sowas hat’s in Schweden nicht. Am Wegesrand Haufen mit wachteleigroßen Hagelkörnern vom letztnächtlichen Gewitter bestaunen. Die Hänge sehen etwas mitgenommen aus. Auf der Alm zu Mittag essen und wieder rechtzeitig ins Tal bevor der nächste Regen kommt. Kurz nach Österreich zum Tanken. Sich in den Alpentälern dank gesperrter Straße ein wenig verfahren. Über eine mit Maut belegte, schmale, sehr urwäldliche Strasse zurück finden. Früh raus am Tag darauf und auf die Autobahn Richtung Weimar. Strömender Regen und dichte Gischt bis hinter Hof. Im Hotel einchecken, duschen und in die feinen Klamotten. Zur Hochzeit in der Kirche, in der Goethe geheiratet hat. Jetzt bin ich der last man standing der Junggesellen. Feier in einem alten Herrenhaus außerhalb der Stadt. Zu viel Essen und Trinken. Dann noch ein ganzer Tag in Weimar. Goethehaus, Goethedies, Goethedas. Ob die Weimarer dessen wohl ein wenig überdrüssig sind? Sich über die Ausstellung im Goethe-Nationalmuseum aufregen, die sich seiner Farbenlehre widmet und sie tendenziell verteidigt und mystifiziert anstatt klarzumachen, was für ein Griff ins Klo sie im Gegensatz zum Zeitgenossen Newton war. Bevor am nächsten Abend der Nachtzug in Frankfurt wartet, kurzer Stopp in Eisenach, durch die Drachenschlucht laufen, im einzigen Dönerladen der Stadt essen. Kann es sein, dass die (nicht mehr so) neuen Bundesländer diesbezüglich noch genauso Entwicklungsland sind wie Schweden? Auf der Wartburg den Blick über den Thüringer Wald genießen; auf dem Turm, dessen Bezahlschranke leicht auszutricksen war. He, wir hatten gerade keine zwei mal fünfzig Cent zur Hand. Dann nach Frankfurt, Auto loswerden und in Sachsenhausen die diesjährige Deutschlandreise mit ein paar großen Gläsern Appelwoi ausklingen lassen. Schön war’s.